Die Stimme ohne Eigenschaften

31.03.2025


Peter Sloterdijks Europabuch, Robert Musil und die Suche nach einer zeitgenössischen Philosophie der Stimme


In seinem Europabuch „Der Kontinent ohne Eigenschaften“ beruft sich Peter Sloterdijk nicht nur im Titel, sondern  wie sich bei der Lektüre nach und nach herausstellt, sehr explizit auf das große Buch von Robert Musil. Dessen Protagonist Ulrich, ein sehr europäisch gezeichneter Mann steht kurz vor dem 1. Weltkrieg in Österreich vor der entscheidenden Frage, ob es noch eine Chance für ihn gibt, Eigenschaften zu erwerben oder zu finden, die es ihm ermöglichen, so etwas wie ein sinnvolles Leben nach Maßgabe der Moderne zu führen. 

Zu Beginn war ich skeptisch, ob hinter der Titelwahl von Sloterdijk mehr steckt als eine anekdotische Bezugnahme. Tatsächlich hat sich herausgestellt, dass zumindest für eine Richtung seiner Überlegungen das Motiv der Eigenschaftslosigkeit in sehr origineller und an Musil angelehnter Form als wegbereitend fungiert – und zwar in einer Spielart, die für meine Fragestellung nach einer zeitgenössischen Konzeption der menschlichen Stimme eine interessante Anregung bereithält. Vorbereitet wird diese Anregung in Sloterdijks Auseinandersetzung mit Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“. In einer Nebenbemerkung und dem dazu angebrachten Zitat Spenglers wird darauf eingegangen, wie der moderne Mensch sich im Verhältnis zur Welt versteht. Das ist ja eine zentrale Frage für die  vocal ecotism-RechercheArrow Right, bei der nach Wegen gesucht wird, mit künstlerischen Mitteln dazu beizutragen, dieses Verhältnis weniger zerstörerisch zu gestalten und zugleich das Selbstverständnis des Menschen neu auszurichten. Bei Spengler kann man lesen, was der übersteigerte Individualismus, der das Ich vollständig von der Welt unabhängig machen will, im Menschen auslöst:


„Ein Ich im Unendlichen verloren: ganz und gar Kraft, aber in einer Unendlichkeit größerer Kräfte ohnmächtig; ganz und gar Wille, aber voller Angst um seine Freiheit (…) (es) wurde jede Grenze der Freiheit als eine Kette empfunden, die man durch das Leben schleppte, und dieses selbst als ein lebendiger Tod. Wenn es aber so war – warum? wofür?“ 

                                                                                        (O. Spengler: Untergang des Abendlandes, zit. nach Sloterdijk: Kontinent ohne Eigenschaften, Berlin 2024, S.158)


In der vocal ecotism-RechercheArrow Right haben wir uns relativ stark darauf konzentriert, die Versehrungen und Verwerfungen zu betrachten, die durch die moderne Trennung des souveränen Subjektes Ich von der objekthaften Welt in dieser Welt angerichtet worden sind. Spenglers Zitat erinnert eindrücklich daran, dass und wie nicht nur die Welt, sondern auch das Ich durch die Trennung versehrt wird bzw. sich selbst schadet. 

Diese Einsicht hat Konsequenzen für eine Idee der Stimmentwicklung wie die in der Tradition von Wolfsohn/Hart, der ich mich zugehörig fühle. Denn dort ist oft davon die Rede, dass Stimmentwicklung zugleich eine Entwicklung der Persönlichkeit unterstützt, bei der die Integration bislang ungehörter Stimmklangbereiche eine Integration der damit korrespondierenden Seelenanteile fördert. Im besten Fall führt das zu einer größeren stimmlichen wie lebenspraktischen Freiheit. Der Ansatz bleibt weiterhin richtig. Zu den Gefahren, die damit einher gehen, zählt an vorderster Stelle das Risiko, die Überbetonung des individualistischen Selbstverständnisses noch zu verstärken. Sehr intensive Erlebnisse mit der eigenen Stimme können dazu führen, das eigene Ego weiter aufzublähen. Dagegen hilft eine Rekontextualisierung in den sozialen und, so die These aus vocal ecotism: den gesamten lebensweltlichen Zusammenhang, der nicht nicht-menschliche Welt mit einbezieht. 

Dazu gehört, die brennende (!) ökologische Frage als Teil der gegenwärtigen Herausforderung zu begreifen, unsere Idee der Stimme und des Menschen den krisenhaften Gegebenheiten der Gegenwart anzugleichen. Hier hat der Mann ohne Eigenschaften (in der überzeugenden Interpretation von Sloterdijk) etwas zu sagen. Denn er deutet an, dass die Idee der potenziell immer im Wachstum begriffenen Persönlichkeit so wie alles andere (abgesehen vom Tod) nicht alternativlos ist. Ulrich knüpft an eine Figur aus der spätmittelalterlichen Mystik an, der es gerade nicht darum gehen konnte, die eigene Persönlichkeit zu entfalten, sondern im Gegenteil leer zu werden von Eigenschaften, um offen zu sein für den Geist Gottes. 


In der frühen Neuzeit hat daraus die Figur des jesuitischen Missionars unselige Energie bezogen und in der säkularisierten Form sieht Sloterdijk insbesondere Lenin und seine Genossen und Nachfolger in dieser Tradition, die die Sache (Gottes oder des Kommunismus) über das Wohl der Menschen stellt. 

In der ursprünglichen Gestalt hatte diese Idee, die eher in fernöstlichen Geistestraditionen zur vollen Blüte gekommen ist, viel weniger zerstörerische Aspekte. In Musils Roman spielt deshalb die Mystik keine geringe Rolle. Doch zuvor sieht sich Ulrich in einer Situation, die ihm keine Anhaltspunkte bietet, welche Eigenschaften es zu finden und auszubilden gäbe, um eine Persönlichkeit mit einem erfüllten oder sinnvollen Leben zu werden. Ich verweise auf die Kapitel 9-11 des MoE, in denen Musil die drei gescheiterten Versuche Ulrichs schildert, einen ihm angemessenen Beruf zu finden. 



Das Konzept der inneren Leere ist für uns interessant, weil damit die Vorstellung einhergeht, dass ich nicht mehr selbst mit meiner Stimme spreche, sondern sie dem Göttlichen zur Verfügung stelle. Hier treffen zwei Konzepte aufeinander, die beide in der modernen Kunst im Allgemeinen und in der Stimmkunst wirksam geworden sind. Einerseits führt es zum Genie, dem Künstler (selten der Künstlerin), der alles aus sich heraus schafft als eigenständige Quelle der Kreativität. Für die Stimmkunst ist Roy Hart dafür ein Paradebeispiel. Seine stimmliche Kraft und souveräne Variabilität sind nach allem, was ich gehört habe, bis heute beispiellos geblieben. Souveräne Beweglichkeit auf dem ganzen Feld der menschlichen Stimme ist hier das Vorbild gebende Ideal. Allerdings wäre zu diskutieren, ob Roy Harts Orientierung an C.G.Jung (und seinem archetypisch strukturierten kollektiven Unbewussten) und sein Konzept der objektiven Stimme nicht die Tür zu einem mehr als individuellen Schema der Stimme geöffnet haben. 

Das zweite Konzept ist nicht am Bild des inneren Wachstums orientiert, sondern an dem einer Durchlässigkeit für alles, was auf den Menschen zukommt. Stimmkünstlerisch geht es nach diesem Ansatz darum, sich für die Bewegungen, die sich mir zeigen, zu öffnen und sich ihnen hinzugeben. 

Auch zu diesem Konzept gibt es viele Beispiele aus der modernen Kunst, in denen Künstler*innen bei der Beschreibung des eigenen künstlerischen Prozesses davon sprechen, nicht zu erfinden, sondern bestenfalls etwas zu finden, das sich ihnen anbietet. Picasso ist dafür ein Paradebeispiel und die Tatsache, dass er zugleich als einer der kreativsten Künstler des 20. Jahrhunderts gilt, zeigt ähnlich wie das Beispiel Roy Hart, wie sich die beiden Konzepte in der Realität auf vielfältige Weise vermischen und nur sehr selten in Reinform auftreten. 


Für eine zeitgenössische Stimmkunst wird es darum gehen, beiden Optionen ihr Recht und ihren Raum zu geben. Damit unterscheidet sie sich allerdings schon gravierend von der geltenden Vorstellung des künstlerischen Gesangs, der nur unter der weitgehenden Kontrolle der eigenen Stimme in der Lage zu sein scheint, den Anforderungen des jeweiligen Klangideals zu entsprechen. Damit hat eine Stimmkunst im stimmfeld wenig zu tun. Zwar sind auch wir davon überzeugt, dass es für die Stimme wie für jede andere Kunstform eines Trainings bedarf, um sich dieses Feld so gut wie möglich anzueignen. Doch ist ein großer Teil des Aneignungsprozesses darauf ausgerichtet, ein Vertrauen aufzubauen, das der Stimme erlaubt, sich der Eigenbewegung hinzugeben, statt nur den bewussten Impulsen des Singenden zu folgen. Die Stimme ohne Eigenschaften wäre demgemäß eine Stimme, die weder auf einen abgezirkelten Bereich ihrer klanglichen Möglichkeiten noch auf den Ausdruck der korrespondierenden Anteile der Sänger*innenpersönlichkeit festgelegt ist - sondern sich erlaubt, Inspiration im freien Spiel der inneren und äußeren Kräfte zu finden und sich ihnen zu öffnen. 

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