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Kunst oder Therapie?
Seit den Anfängen der Arbeit mit der Stimme in der Tradition von Alfred Wolfsohn und Roy Hart taucht die Frage auf, ob das was wir da tun Kunst ist oder zumindest auch Therapie. (Im Subtext der Frage ist manchmal zu hören, dass es nach Kunst aussieht, aber eigentlich Therapie ist.)
Die Frage begleitet uns und die Arbeit mit dem Ansatz der Stimmentwicklung nach Wolfsohn/Hart seit den ersten Jahren in London und die erste überlieferte Antwort stammt von Roy Hart, der zu sagen pflegte, dass die kollektive Arbeit des Roy Hart Theatre 51% Kunst und 49% Therapie sei.
Später haben sich die Antworten geändert und die Generation der Gründungsmitglieder des RHT behaupten in der Regel, keine Therapie zu machen obwohl die Stimmarbeit sehr wohl therapeutische Konsequenzen haben kann. Ein Grund, nicht von Therapie zu sprechen, liegt darin, dass die meisten Lehrer in der Tradition von Wolfsohn/Hart keine ausgebildeten Therapeuten sind und schon aus rechtlichen Gründen nicht sagen dürfen, sie böten Therapien an.
Wie dem auch sei, all diese abwägenden Antworten auf die Frage nach Kunst oder Therapie haben mich nie zufrieden gestellt. Ich weiß keine bessere Antwort sondern vermute eher, dass das Problem schon in der Frage steckt. Die Alternative von Kunst und Therapie führt in eine problematische Richtung. In vieler Hinsicht ist die Frage falsch gestellt. Unser Ansatz der Beschäftigung mit der menschlichen Stimme ist eher vergleichbar mit Praktiken, die man aus Asien kennt, TaiJii oder Yoga zum Beispiel. Auch da geht es darum, bestimmte Fertigkeiten zu entwickeln, aber die eigentliche Arbeit ist die innere. Die Bewegungen an sich haben kaum eine Bedeutung, wichtig ist es, sie mit der richtigen inneren Haltung durchzuführen. Das körperliche Training ist zugleich und vielmehr ein Geistestraining! Ein Yoga- oder TaiJii-Meister zeigt sich nicht in bloßer Artistik. Er oder sie müssen eine Haltung ausstrahlen, die sie als „Meister*in“ auszeichnet. Auf dem Weg zur Meisterschaft wird sich immer auch die innere Situation und die Befindlichkeit des Menschen ändern. Die Übungen sind eben nicht nur eindimensional auf die Verbesserung bestimmter Bewegungsabläufe gerichtet, sondern strahlen auf alle Aspekte des Menschen aus. Diese Vorstellung kann man mit einigen Abweichungen auf die Arbeit mit der Stimme übertragen.
Es gibt noch einen Aspekt. Die Unterscheidung in Kunst und Therapie setzt voraus, dass es sich dabei um zwei voneinander getrennte Bereiche handelt, einen künstlerischen und einen lebenspraktischen, in dem Therapie Hilfestellung leisten kann. Das Roy Hart Theatre hatte es sich zur Aufgabe gemacht, genau diese Trennung aufzuheben und Kunst und Leben als Einheit zu denken. Im RHT ging es um die Frage, wie ein künstlerisches Leben möglich sei. Das verweist auf das berühmte Diktum von Joseph Beuys, nachdem jeder Mensch ein Künstler oder eine Künstlerin ist. Schon bei Beuys war damit nicht gemeint, dass alle anfangen sollten zu malen oder Skulpturen herzustellen. Es ging vielmehr darum, aus einer künstlerischen Grundhaltung sein gesamtes Leben zu führen.
Für Stimmkünstler ist diese Verbindung von Leben und Kunst von vorneherein gegeben! Denn die Stimme, die wir im sogenannten Alltag verwenden, ist dieselbe, wie die Stimme, die auf der Bühne oder in der Performance erklingt. Wir müssen weder Thema noch Material wechseln, wenn wir uns vom Leben in die Kunst bewegen. Die Stimme bleibt dieselbe und ist dadurch besonders geeignet, die Trennung zwischen diesen Bereichen zu überwinden. Wir sind stimmlich immer schon mit beiden Sphären in Verbindung. Ernst zu nehmen, dass jede vokale Aktion zum Feld des Gesangs gehört, ist die Aufgabe, die sich uns stellt. Eine lebenslange Aufgabe, die aber die Entscheidung zwischen Kunst oder Therapie obsolet macht.
Postskriptum (12. Dez. 2022)
Dieser Blogbeitrag hat in einer „Roy Hart Voice Work- Facebook Gruppe“ eine sehr spannende Diskussion hervorgerufen und ich möchte als Antwort darauf ein paar meiner Gedanken konkretisieren.
Zuerst einmal war interessant zu erfahren, worauf in den Antworten auf meine Überlegungen nicht eingegangen wurde, nämlich auf meine beiden Vorschläge, den Prozess der Stimmentwicklung eher mit asiatischen Wegen zu vergleichen bzw. die Idee des Roy Hart Theatre, Kunst und Leben in der Stimmarbeit so nah wie möglich aneinander zu führen, ernst zu nehmen und für unsere Zeit zu adaptieren. Die Richtung, die ich einschlagen möchte, um genauer zu klären, was wir da tun, scheint auf keine große Resonanz zu stoßen. Das ist natürlich völlig ok, denn es geht nicht darum, eine gemeinsame Antwort zu finden, sondern sich gegenseitig darin zu unterstützen, jeweils der eigenen Antwort näher zu kommen. (Die Antwort zu haben, ist dann meist kein besonders interessanter Zustand mehr….)
In den Reaktionen auf meinen Blogbeitrag gab es starke Hinweise auf die Parallelen zwischen therapeutischen und kreativen Prozessen, es wurde betont, dass die Frage „Kunst oder Therapie“ insbesondere von der Intention der Agierenden abhängt und vom Fokus, den man in der gemeinsamen Arbeit miteinander klären kann (und sollte). Außerdem wurde gefordert, genauer zu bestimmen, wovon wir denn da reden! All diese Bemerkungen scheinen mir wichtig und richtig zu sein. Ich will hier kurz der letzten Forderung nachgehen und genauer formulieren, wovon ich eigentlich reden wollte.
Ich beschreibe meine Arbeit mit der Stimme oft mit den Worten, dass ich Stimmbefreiungs- und entfaltungsprozesse begleite und nach den Verbindungen der Stimme zu der tönenden Person und zur Welt suche.
Bei einem dieser Prozesse begleite ich mich selbst! - in einer Art lebenslanger Forschung. Und ich hoffe, dass etwas aus diesem Selbsterfahrungsprozess für die Begleitung anderer Menschen und ihrer Prozesse hilfreich ist.
Mit dieser Formulierung versuche ich, Begriffe wie Lehrer und Unterricht zu vermeiden, weil sie eigentlich noch nie meinem Selbstverständnis und dem Verständnis dessen, was ich tue, entsprochen haben. Auch die Begriffe Kunst und Therapie kommen noch gar nicht vor. Ich will den Punkt finden, der vor einer solchen Unterscheidung liegt. Für mich hat das damit zu tun, dass ich mich entschieden habe, mich einer Lebenspraxis zu widmen, die von der Stimme und der ihr eigenen Logik geprägt ist. Mein Weg ist der Weg der Stimme, so wie andere Meditation, Yoga, Kung Fu oder Malerei, Gesang oder ein Musikinstrument als Weg wählen. Das ist eine viel tiefgreifendere Entscheidung als Stimmunterricht zu nehmen oder zu geben. Ich glaube, dass die Mitglieder des Roy Hart Theatre eine ähnliche Entscheidung getroffen haben. Nachdem diese Entscheidung gefällt wurde, war die Arbeit in der Küche genauso wichtig für den eigenen Prozess wie die Arbeit auf der Bühne. Die Gesprächsrunden (Rivers) hatten dieselbe Relevanz wie die Proben für das nächste Stück. Die Qualität des Zuhörens war bei der zufälligen Begegnung im Treppenhaus genauso wichtig wie beim gemeinsamen Singen im Duett.
Ich weiß, die Zeiten des RHT sind vorbei und es gibt unter uns in Malérargues oder sonstwo nichts Vergleichbares. Wir müssen neue Formen finden, der Logik der Stimme zu folgen.
Vor diesem Hintergrund interessiert mich, wie die Frage, ob das was wir machen Kunst oder Therapie sei – eine Frage, die meistens von Menschen gestellt wird, die unsere Arbeit noch nicht sehr gut kennen –für diejenigen klingt, die sich für eine Lebenspraxis der Stimme entschieden haben. Und da vermute ich weiterhin, diese Frage ist falsch gestellt.
Art or Therapy
In our work with the voice in the tradition of Alfred Wolfsohn and Roy Hart we often are confronted with the question if the work we are doing is mere art or more therapy. (Often there seems to be a subtext below this question saying that it looks like artistic work but in the end it is therapy.)
This question has accompanied our work since the first years in London and the first answer that has come down to us was from Roy Hart. He used to say that it is 51% art and 49% therapy.
Later the answer changed and the teachers from the generation who founded the Roy Hart Theatre used to claim that they are not doing therapy although the work has often therapeutic results. Sometimes they add that it is also for legal reasons why they don´t talk about therapy because most of the teacher in this tradition are not trained therapists and don´t have the right to call their work therapy.
Anyway all these answers aren´t really satisfying for me. I don´t think there is a better answer but the problem lies already in the question. The alternative art or therapy is leading into a difficult direction. It is the wrong question in some perspective. The work we do is more comparable with some Asian practices like TaiJii or Yoga. There you learn certain skills but the main focus is on the inner work and development. A master or a martial artist is someone who not only can do all the movements but does them with an attitude that shows a high quality of mind and heart. On the way to becoming a master, the inner situation and the state of mind of the person will constantly change. The exercises are not only one-dimensionally directed at improving certain movement patterns, but have an effect on all aspects of the human being. With some modifications, this idea can easily be applied to the work with the voice.
There is another important aspect: The division of art and therapy claims that the work is either positioned in an artistic field or is part of life that can be improved by therapy. This division is exactly what the Roy Hart Theatre wanted to overcome. The idea of their collective work and art was to bring together art and life. To live your life in an artistic manner and to make art with all your life energy. This is close to the famous statement of Joseph Beuys that every man/woman is an artist. For Beuys this didn´t mean that everybody should start to paint or to make sculptures etc. but to live one´s life with an attitude of artistic awareness.
For voice artists there is even a stronger connection of art and life. The voice we use in so called daily life is the same one that we use on stage or in a performance. We don´t have to change subject or material to move from art or life. We are already in both spheres when we “sing”. The task is just to take the idea serious that every vocal action is singing. If we reach this awareness we are living an artistic life. A lifelong challenge though….. But far from the distinction of art and therapy.
Postscript (12 Dec. 2022)
The blog post above has generated a very exciting discussion in a "Roy Hart Voice Work- Facebook group" and I would like to elaborate on a few of my thoughts in response.
First of all, it was interesting to learn what was not referred to in the responses to my reflections, namely my two suggestions to compare the process of voice development more with Asian ways or to take seriously and adapt for our time the Roy Hart Theatre's idea of bringing art and life as close as possible together in voice work. The direction I would like to take in order to clarify more precisely what we are doing does not seem to encounter much resonance. Of course, that's perfectly okay, because the point is not to find a common answer, but to support each other in coming closer to one's own answer. (Having the answer is then usually no longer a particularly interesting condition....)
In the reactions to my blog post, there were strong references to the parallels between therapeutic and creative processes, it was emphasised that the question "art or therapy" depends in particular on the intention of those acting and on the focus that can (and should) be clarified in the joint work with each other. Furthermore, it was demanded to define more precisely what we are talking about! All these comments seem to me to be important and true. I want to briefly follow up on the last demand here and formulate more precisely what I actually wanted to talk about.
I often describe my work with the voice by saying that I accompany voice liberation and unfolding processes and search for the connections of the voice to the sounding person and to the world.
In one of these processes I guide myself! - in a kind of lifelong research. And I hope that something from this process of self-exploration is helpful for guiding other people and their processes.
With this formulation I try to avoid terms like teacher and teaching, because they have never actually corresponded to my self-understanding and understanding of what I do. Also, the terms art and therapy do not come up yet. I want to find the point that lies before such a distinction. For me, it has to do with the fact that I have decided to dedicate myself to a life practice that is shaped by the voice and its own logic. My path is the path of the voice, just as others choose meditation, yoga, kung fu or painting, singing or a musical instrument as their path. It is a much more profound choice than taking or giving voice lessons. I believe that the members of the Roy Hart Theatre made a similar decision. Once that decision was made, working in the kitchen was as important to their own process as working on stage. The rounds of conversations (Rivers) had the same relevance as the rehearsals for the next play. The quality of listening was just as important in the accidental encounter in the stairwell as it was in singing a duet together.
I know the days of the RHT are over and there is nothing comparable among us in Malérargues or anywhere else. We have to find new forms to follow the logic of the voice.
With this background, I am interested in how the question of whether what we do is art or therapy - a question that is mostly asked by people who do not yet know our work very well - sounds to those who have chosen a life practice of the voice. And I continue to believe that this question is the wrong one.
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