Otto Freundlich: Komposition
English below
Überlegungen zur menschlichen Stimme
im Anschluss an das Werk von Otto Freundlich
Dieser Text ist im Rahmen der zweiten stimmfeld-Soirée entstanden, in der ich am 25. März 2025 das Werk des Künstlers Otto Freundlich daraufhin befragt habe, ob sich Anregungen und Anknüpfungspunkte für eine zeitgenössische Idee der menschlichen Stimme und Stimmkunst finden lassen. Nach dem Vortrag dieser Überlegungen habe ich Ausschnitte aus seinen Schriften vorgelesen. Die Audioaufnahme davon ist hier
Eine Dokumentation der ersten Soirée zu Otto Freundlich gibt es hier
Im Rahmen von vocal ecotism habe ich bereits ein paarmal darauf hingewiesen, dass sich durch die Einbeziehung der dritten und nicht-menschlichen Sphäre der Welt in das, was Stimme betrifft, auch unser Verständnis genau dieser Stimme verändern wird. Wenn wir anerkennen, dass Stimme immer als eingebettet in die weltlichen Zusammenhänge und Bedingungen erklingt, stellt sich die Frage neu, was das ist, die menschliche Stimme.
Direkt hat das Werk von Otto Freundlich zu dieser Frage nicht viel beizutragen, trotzdem sind dort einige Andeutungen zu finden, mit denen wir bei der Suche nach einem ökologischen Verständnis der Stimme weiterkommen können. So zumindest ist meine Hoffnung.
Um die Anregungen einordnen zu können, ist es hilfreich, kurz über ein paar Ideen zu sprechen, die für dieses neue Verständnis grundlegend sind.
Ein zentraler Gedanke besagt, dass die Einbeziehung der dritten Ökologie (um die Begrifflichkeit von Felix Guattari zu verwenden) Rückwirkungen darauf haben wird, wie wir die beiden anderen Ökologien in Bezug auf die Stimme verstehen. D.h. unser Selbstverständnis als Wesen, die Stimme haben, wird sich ändern und zugleich unser Bild von dem, wie wir mit anderen Menschen über das System Stimme/Gehör verbunden sind.
Deshalb liste ich zuerst die Aspekte auf, die mir zu den drei Bereiche oder Feldern einfallen:
1. Der eigene, individuelle Raum: In diesem Bereich hat es in den vergangenen Jahren auch unabhängig von vocal ecotism einige Schwerpunktverschiebungen gegeben, mit denen sich der Ansatz von stimmfeld jetzt in gewisser Hinsicht von dem, der unter den Namen Wolfsohn/Hart fungiert, unterscheidet. Weniger wichtig ist geworden, die stimmlichen Aktionen als Ausdrucksgeschehen zu verstehen. Stattdessen arbeite ich mich an Rilkes Diktum „Gesang ist Dasein“ ab. Dazu gehört auch, die Beschäftigung mit der Stimme nicht vornehmlich als Vorbereitung für wie auch immer geartete künstlerische Aktionen zu betrachten (obwohl dieser Punkt auch nicht ganz verschwindet), sondern die Möglichkeiten einer stimmlichen und künstlerischen Praxis zu erkunden, die die Stimme als einen Weg betrachtet, der denen von Meditation, Yoga, TaiJii oder Wushu, um nur einige zu nennen, ähnlich ist.
Da liegt es nahe zu denken, dass ich hier von Stimmentwicklung als Persönlichkeitsentwicklung rede, die doch schon lange im Zentrum der Arbeit nach Wolfsohn/Hart steht. Damit komme ich zu einem Punkt, für den es bei Otto Freundlich etwas zu lernen gibt.
Die Idee der Persönlichkeitsentwicklung – so richtig und wichtig sie auch sein mag – ist ein Kind des Individualismus und der modernen Vorstellung von klar abgrenzbaren Subjekten, die irgendwie in der Welt und der Welt gegenüber stehen. Diese Forderung nach klarer Abgrenzung wird von Otto Freundlich in seinem Konzept der Malerei kritisiert. Für ihn geht es darum, die Grenzen zwischen mir und der Welt, aber auch zwischen allen Lebewesen und Gegenständen in der Welt, durchlässig zu machen und zu erkennen, dass all diese Dinge und Wesen eingebunden sind in ein Spiel von Kräften. Freundlichs Kunst hat sich zur Aufgabe gemacht gestellt, dieses Kräftespiel zu thematisieren.
Die Entwicklung der 8-Oktaven-Stimme oder gar des 8-Oktaven-Lebens sind dann sozusagen keine rein persönliche Angelegenheit mehr. In Bezug auf die soziale Sphäre, die hier eine wichtige Bedeutung hat, war das RHT nach allem, was ich davon weiß, zumindest zeitweise auf dem richtigen Weg. Die Öffnung der individuellen Sphäre und Stimme hinein in die nichtmenschliche Welt, kam sicher nur am Rande vor.
2. Damit sind wir aus dem individuellen Raum bereits in die zweite Ökologie, den sozialen Raum gelangt. Für die Idee, dass die Befreiung der Stimme zu sich selbst eine soziale Frage darstellt, kann man bei Otto Freundlich wieder eher indirekt einiges finden. Er proklamiert für sich nämlich eine enge Verzahnung von Ästhetik und Ethik. Freundlich arbeitet nicht deshalb an der gegenstandslosen Kunst, weil sie ästhetisch reizvoll ist, sondern weil dahinter ein Konzept steht, dass vor allem ethische Relevanz besitzt. Wenn wir die Welt nicht mehr als Sammlung von klar voneinander abgezirkelten Einheiten und Dingen verstehen, sondern als Mosaik von Farben, deren inhärente Kräfte aufeinander wirken und sich gegenseitig beeinflussen, die Trennung der Dinge vom Menschen und der Menschen voneinander also nicht mehr unser Weltbild bestimmt, dann kann es nach Otto Freundlich möglich werden, friedlich und respektvoll miteinander zu leben.
Die Art wie Stimme und Klänge in der Welt miteinander agieren, kann als Modell für dieses Weltbild herangezogen werden. Was schon in die dritte Ökologie, die die nichtmenschliche Welt umfasst, führt.
3. Die vocal ecotism – Recherche hat uns für die Suche nach einem zeitgenössischen Verständnis der menschlichen Stimme den entscheidenden Impuls gebracht, die Öffnung des Horizontes hinein in die nicht-menschliche Welt, die uns umgibt und Stimmklang ermöglicht und ihre je aktuelle Ausprägung mitbestimmt. Wieder kann man hier vom Modellcharakter der Stimme für die gesamte menschliche Existenz sprechen. Die Art, wie die Stimme in die Weltzusammenhänge eingebettet ist, zeigt an, wie sich unser In-der-Welt-Sein gestaltet. Auf einen sehr kurzen Nenner gebracht heißt das: Gesang ist Dasein. Der Rilke-Satz ist ja schon im Abschnitt zum individuellen Raum der Stimme gefallen. Doch erst hier, im Feld der Lebenswelt, die die nichtmenschliche Dimension umfasst, bekommt er seinen tiefen Sinn.
Zum Schluss möchte ich noch auf die Anordnung der drei Ökologien im Rahmen einer Arbeit mit der Stimme eingehen. Bislang sind wir davon ausgegangen, dass die drei Sphären von der kleinsten, der individuellen, über die soziale hin zur größten alles umfassenden Dimension aufeinander folgen. Diese Anordnung zeigt meines Erachtens eher die historische Entwicklung, die von vielen Konzepten bestimmt ist, nach denen wir in der Moderne gewohnt sind zu denken. Danach beginnt es eben mit dem Subjekt, dem Ich, das sich irgendwie in den sozialen Raum öffnet. Seit uns die allgemeinen Lebensbedingungen durch die ökologischen Krisen abhanden kommen, haben wir immerhin erkannt, dass es da noch mehr gibt, das uns interessieren sollte. Soweit, so gut. Otto Freundlich zeigt uns eine andere Art, die Welt zu betrachten – und damit auch, die Stimme zu verstehen. Danach ist das Feld der miteinander agierenden Kräfte das primäre, indem sich Individualität und Sozialität als Formen dieses Kräftespiels entfalten. Mit der stimmlichen Elementenlehre versuchen wir, uns dieser Vorstellung zu nähern.
Aber Freundlich geht an dieser Stelle noch einen Schritt weiter, der für uns interessant ist. Denn für ihn ist nur die Kunst in der Lage, das neue Weltbild zu verstehen und darzustellen. Dazu bedarf es nämlich eines viel weiteren Horizonts als dem der Wissenschaften. Es braucht dafür eine geschulte Wahrnehmung der Kräfte, die uns umgeben und durchdringen. Und dafür bedarf es der gesamten inneren Situation der Menschen, nicht nur ihres Verstandes. Der Punkt ist für uns wichtig, weil er darauf hinweist, dass – wie wir ja aus der Stimmarbeit wissen – auch die Stimme nur mit allen Sinnen und Fähigkeiten adäquat erfasst werden kann. Das heißt, unsere Stimmarbeit ist immer schon künstlerisch gefärbt. Wir hören, fragen und suchen aus der Position der Kunst heraus, ohne zwingend dauernd Kunstaktionen oder Werke schaffen zu wollen. Kunst als Lebensform, die der Logik der Stimme verpflichtet ist. Da kommt also einiges zusammen, was bislang eher nebeneinander lag. Ist das ein Startpunkt für eine ganzheitliche Konzeption der menschlichen Stimme?
Otto Freundlich: Komposition
Abstract Vocal Art?
Reflections on the Human Voice
in the Light of the Work of Otto Freundlich
This text was created for the second stimmfeld soirée, during which I examined on 25 March 2025 the work of the artist Otto Freundlich to see if it contains suggestions and points of reference for a contemporary idea of the human voice and vocal art. After presenting these considerations, I read excerpts from his writings. The (German) audio recording of this can be found here
A documentation of the first soirée on Otto Freundlich can be found here
In the context of vocal ecotism, I have already pointed out a few times that by including the third and non-human spheres of the world in what affects voice, our understanding of that very voice will also change. If we recognise that voice always emerges in the context of worldly connections and conditions, the question arises anew as to what the human voice is.
Otto Freundlich's work does not have much to contribute directly to this question, but nevertheless, there are some hints in it that may help us in our search for an ecological understanding of the voice. At least that is my hope.
In order to be able to contextualise the suggestions, it is helpful to briefly mention a few ideas that are fundamental to this new understanding.
One central idea is that the inclusion of the third ecology (to use Felix Guattari's terminology) will have repercussions on how we understand the other two ecologies in relation to the voice. In other words, our self-understanding as beings that have voices will change, as will our image of how we are connected to other humans through the voice/hearing system.
That is why I am beginning with a list of aspects that occur to me regarding the three areas or fields:
1. One's own individual space: In this area, there have been some shifts in focus in recent years, which are not related to vocal ecotism. In this respect, the approach of stimmfeld now differs in some respects from that of Wolfsohn/Hart. Understanding the vocal actions as acts of expression has become less important. Instead, I am working on Rilke's dictum ‚Gesang ist Dasein/Singing is being’. This also includes not regarding the study of the voice primarily as preparation for artistic actions of whatever kind (although this point does not disappear completely), but rather to explore the possibilities of a vocal and artistic practice that regards the voice as a path similar to those of meditation, yoga, TaiJii or Wushu, to name just a few.
It seems obvious to think that I am talking here about voice development as personal development, which has been at the centre of Wolfsohn/Hart's work for a long time. This brings me to a point where there is something to learn from Otto Freundlich.The idea of personal development – however correct and important it may be – is a child of individualism and the modern notion of clearly definable subjects which somehow stand in relation to the world and the world. This demand for clear demarcation is criticised by Otto Freundlich in his concept of painting. For him, it is about making the boundaries between me and the world, but also between all living things and objects in the world, permeable and recognising that all these things and beings are integrated into a play of forces. Freundlich's art has set itself the task of addressing this play of forces.
The development of the eight-octave voice or even of eight-octave life are then, so to speak, no longer a purely personal matter. In relation to the social sphere, which has an important meaning here, the RHT was, from what I know of it, at least temporarily on the right track. The opening of the individual sphere and voice into the non-human world certainly occurred only occasionally.
2. With this, we have already moved from the individual space into the second ecology, the social space. Otto Freundlich's ideas also indirectly support the notion that the liberation of the voice to itself is a social issue. He proclaims a close connection between aesthetics and ethics. Freundlich does not work on non-representational art because it is aesthetically appealing, but because it is based on a concept that is primarily ethical. If we no longer understand the world as a collection of clearly defined units and things, but as a mosaic of colours whose inherent forces interact and influence each other, and if the separation of things from humans and of humans from each other no longer determines our view of the world, then, according to Otto Freundlich, it may become possible to live together peacefully and respectfully.
The way that voices and sounds interact with each other in the world can be used as a model for this world view. Which already leads to the third ecology, which encompasses the non-human world.
3. The vocal ecotism research has given us a crucial impetus in our search for a contemporary understanding of the human voice, opening up the horizon into the non-human world that surrounds us and makes vocal sound possible and helps shape its current form. Again, we can speak of the voice as a model for the whole of human existence. The way in which the voice is embedded in the world's interconnections indicates how our being-in-the-world is shaped. To put it very briefly, in German, Gesang ist Dasein. The Rilke quote was already mentioned in the section on the voice's individual space. But it is only here, in the field of the world of life, which encompasses the non-human dimension, that it acquires its full meaning.
Finally, I would like to discuss the arrangement of the three ecologies in the context of working with the voice. So far, we have assumed that the three spheres follow one another from the smallest, the individual, through the social to the largest, all-encompassing dimension. In my opinion, this arrangement rather shows the historical development, which is determined by many concepts that we in modern times are accustomed to thinking in. According to this, it begins with the subject, the ego, which somehow opens into social space. Since we have lost our general living conditions due to the ecological crises, we have at least realised that there is more that should interest us. So far, so good. Otto Freundlich shows us a different way of looking at the world – and thus also of understanding the voice. According to this, the field of interacting forces is the primary one in which individuality and sociality unfold as forms of this interplay of forces. We try to approach this idea with the vocal element theory.
But Freundlich goes a step further at this point, one that is of interest to us. For him, only art is capable of understanding and conveying the new world view. This requires a much more expanded horizon than that of the sciences. It requires a trained perception of the forces that surround and permeate us. And for this, the entire inner situation of humans is needed, not just their minds. This point is important to us because it indicates that – as we know from voice work – the voice can only be adequately grasped with all our senses and abilities. This means that our work with the voice is always already coloured by art. We listen, ask questions and search from the position of art, without necessarily wanting to constantly create art actions or works. Art as a way of life that is committed to the logic of the voice. So a number of things come together that previously existed rather separately. Is this a starting point for a holistic conception of the human voice?
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