stimmfeld-Manifesto 2023

10.03.2023

die deutsche Version gesprochen:

Warum Stimme? Warum Stimmkunst?

Ein Manifest von stimmfeld/Ralf Peters



Etwas Kraft, Flug, Muth, Künstlerschaft mehr: und sie würden hinaus wollen, - und nicht zurück! –


                                                                                                                                                                                                                        Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, 

Erstes Hauptstück, 10. (S. 24)



These: Die grundlegendste – und damit tiefste – Aufgabe unserer Zeit besteht darin, Wege zu finden, auf denen sich die großen Errungenschaften der Moderne mit den verloren gegangenen Stärken und Qualitäten der "Alten" in einer neuen Lebensform zusammenfinden, ohne die zerstörerischen und beschränkenden Wirkungen der Vergangenheit und der Gegenwart mit im Gepäck zu tragen. 

Dieser Ansatz unterscheidet sich grundlegend von den Fortschrittsideologien der vergangenen drei bis vier Jahrhunderte, die glaubten, das Neue sei per se besser als das Alte und der neue Mensch könne nur befreit vom Ballast der Tradition entstehen. Er unterscheidet sich auch von alten und vormodernen Konzepten, die nur das alte, oft teilweise verloren gegangene Wissen als das wahre Wissen betrachten. 

Und er unterscheidet sich erst recht von den reaktionären Ideologien, die in der Rückwendung zur Vergangenheit den Weg zum Heil zu sehen glaubten. 

Die größte Hoffnung, den Weg zu einer Synthese des Guten aus Tradition und Moderne zu ebnen, liegt in der Kunst. Neben vielen anderen Möglichkeiten und Ausprägungen hat die moderne Kunst Zugang zur Geschichte mit all ihren künstlerischen Ausdrucksformen, bei denen sie sich bedienen kann. Und zugleich ist die Kunst Ausdruck unserer Zeit und in ihren reflektierten Spielarten als erste in der Lage, sich mit den Verwerfungen und Chancen der Moderne auseinanderzusetzen. 

Die Stimme, als anthropologische Konstante und Metapher, die seit den frühesten Anfängen der Menschheit mitbestimmt, was Menschsein bedeuten kann, liefert die Blaupause für die formulierte Aufgabe der Gegenwart. 

(Wenn von Stimme die Rede ist, geht es genau genommen um das fein aufeinander abgestimmte System von Stimme und Gehör. Alle stimmlichen Funktionen und Qualitäten entstehen erst in dem Miteinander von hören und tönen. Die Art wie Stimme und Gehör aufeinander bezogen sind, ist im sinnlichen Aufbau des Menschen einzigartig.) 

Die Stimme ist für alle Zeiten und für fast alle Menschen ein integraler Bestandteil der Lebensformen gewesen, die sich in den verschiedensten Kulturen ausgeprägt haben. Sie ist das Allgemeinste des Menschen, das über den einzelnen Menschen hinausweist und noch vor der Zuordnung von Menschen in verschiedene Sprachgruppen liegt. Gleichzeitig ist sie in ihrer personalen Individualität unverwechselbar. Sie steht für Gemeinschaft und für die Einzelnen. Sie schafft Gemeinsamkeit und Eigenständigkeit. Sie ist immer schon da und wandelt sich ständig. Sie ist im Klang immer bei den anderen und zugleich bei mir. 

Stimme und Stimmklang sind nicht nur in so gut wie allen spirituellen Traditionen Teil der Praxis, sie gehören auch in allen Kulturen zu den ersten Medien des rituellen und künstlerischen Ausdrucks.

Die Stimme ist zugleich alt und in jedem Stimmklang erneuert. Sie weist auf die Geschichte und in die Zukunft. Aber sie hält beides nicht fest, sondern erklingt und vergeht im Gegenwärtigen. 

Die künstlerische Aufgabe, die Errungenschaften der Tradition und der Moderne so miteinander in Harmonie und Balance zu bringen, dass sie zu einer Form des guten Lebens führen, muss sich nicht unbedingt direkt auf das Phänomen der menschlichen Stimme beziehen. Doch bei ihr kann sie lernen, was es heißt, die eigene Geschichte als Prägung zu bejahen, die man nicht abwerfen kann und sich von dort aus ins Neue und Offene zu bewegen. 

Dafür bedarf es einer Bereitschaft, das Menschsein von der Stimme her zu erforschen und zu befragen. Wir müssen die Vorstellung aufgeben, schon genau zu wissen, was die Stimme ist und darstellt. Es hilft nicht, nur an neuen, noch effektiveren Stimmentwicklungs- und Trainingsansätzen zu arbeiten. Die Stimme ist ein offenes Feld. Wir haben gerade erst angefangen, sie in ihrer Kraft und Bedeutung als anthropologische Konstante zu entdecken. Die Entdeckungsreise wird eine künstlerische sein. Damit kann es gelingen, die Menschheit aus den spätmodernen und spätkapitalistischen Verwerfungen herauszuführen, ohne in die Zwänge und Einschränkungen vormoderner Gesellschaften zurückzufallen. 


Damit das Vorhaben eine Chance hat, wird es nötig sein, einschränkende Vorstellungen von der menschlichen Stimme aufzugeben und die ganze Stimme mit all ihren klanglichen Möglichkeiten und reziproken Verbindungen zum lebendigen Körper/Seele/Geist-System zu erforschen. Das ist eine Aufgabe, die zugleich in die Vergangenheit früherer Stimmideale als auch in die Zukunft eines umfassenden Verständnisses führt. Den Ansatz dafür liefert die Idee der menschlichen Stimme, wie sie von Alfred Wolfsohn und Roy Hart entwickelt wurde und bis heute von den Lehrer*innen und Künstler*innen des Roy Hart International Voice Center vermittelt wird. Diesen Ansatz weiterzudenken, ist die Aufgabe, die sich stimmfeld gestellt hat. 


Die menschliche Stimme ist im 21. Jahrhundert der Schlüssel für die Öffnung eines Raums, in dem eine menschliche und weniger versehrte Welt entstehen kann. Mit dieser Vermutung im Gepäck erheben wir unsere Stimmen.

Vorbemerkung


Von Zeit zu Zeit ist es gut, für einen Moment in der eigenen Arbeit innezuhalten und zu überprüfen, wo man auf seinem Weg gerade unterwegs ist. Welche Etappe habe ich hinter mir? In welche Richtung geht es weiter? 

Für diese Selbstvergewisserung bietet sich ein Format an, das einen gewissen Grad von Vereinfachung erfordert, um dadurch genügend Klarheit zu bringen, um für die nächste Etappe vorbereitet zu sein. Dieses Format heißt Manifest. 

Hier also mein stimmfeld-Manifest 2023:

Why Voice? Why Voice Art?

A manifesto by stimmfeld/Ralf Peters


                             A little more strength, flight, courage, artistry: and they would head out, - and not back! 

Nietzsche: Beyond Good and Evil, 

first main part, 10 (p. 24)



Thesis: The most fundamental - and thus deepest - task of our time is to find ways in which the great achievements of modernity can come together with the lost strengths and qualities of the "old", in a new way of life, without carrying the destructive and limiting effects of the past and present in our luggage. 

This approach is fundamentally different from the ideologies of progress of the past three to four centuries, which believed that the new was per se better than the old and that the new humanity could only emerge liberated from the ballast of tradition. It also differs from old and pre-modern concepts that only consider the old, often partially lost knowledge as the true knowledge. 

And it is even more different from the reactionary ideologies that believe the path to salvation lay in turning back to the past. 

The greatest hope for paving the way to a synthesis of the good from tradition and modernity lies in art. Among many other possibilities and expressions, modern art has access to history with all the artistic expressions it can draw on. And at the same time, art is an expression of our time and, in its reflected varieties, is the first to be able to deal with the dislocations and opportunities of modernity. 


The voice, as an anthropological constant and metaphor that has helped determine what it means to be human since the earliest beginnings of humankind, provides the blueprint for the formulated task of the present. 

(When we talk about voice, we are talking about the precisely tuned system of voice and hearing. All vocal functions and qualities arise only in the interaction of hearing and sound. The way in which voice and hearing are related to each other is unique in the sensory structure of the human being).

For all times and for almost all people, the voice has been an integral part of the forms of life that have taken shape in the most diverse cultures. It is the most general aspect of being human and points beyond the single woman or man. The voice lies even before the classification of people into different language groups. At the same time, it is unmistakable in its personal individuality. It stands for community and for the individual. It creates commonality and independence. It has always been there and is constantly changing. In sound, it is always with the others and at the same time with myself. 

The voice and the sound of the voice are not only part of the practice in almost all spiritual traditions, they are also among the first vehicles of ritual and artistic expression in all cultures.

The voice is both ancient and renewed in every vocal sound. It points to history and to the future. But it does not hold on to either, but resonates and fades in the present. 

The artistic task of bringing the achievements of tradition and modernity into harmony and balance with each other in such a way that they lead to a form of the good life does not necessarily have to refer directly to the phenomenon of the human voice. But with her, we can learn what it means to affirm our own history as an imprint that cannot be discarded and to move from there into the new and open. 

This requires a willingness to explore and question what it means to be human from the perspective of the voice. We have to give up the idea of already knowing what the voice is and represents. It does not help to only work on new, even more effective voice development and training approaches. The voice is an open field. We have only just begun to discover it in its power and significance as an anthropological constant. The journey of discovery will be an artistic one. This can succeed in leading humanity out of late-modern and late-capitalist dislocations without falling back into the constraints and limitations of pre-modern societies. 


For this project to be given a chance, it will be necessary to abandon limiting notions of the human voice and explore the whole voice with all its sonic possibilities and reciprocal connections to the living body/soul system. This is a task that leads both into the past of earlier vocal ideals and into the future of a full understanding. The approach to this is provided by the idea of the human voice as developed by Alfred Wolfsohn and Roy Hart, and which is still taught today by the teachers and artists of the Roy Hart International Voice Center. To develop this approach further into a contemporary artistic concept is the challenge stimmfeld has taken on. 


In the 21st century, the human voice is the key to open up a space where a more human and intact world can emerge. With this presumption in mind, we raise our voices.

Foreword


From time to time it is helpful to take a stop on your path and to check where you are on your journey. Which steps have I taken? In which direction will I continue to move? 

For this consideration, one format can be used that requires a certain degree of simplification in order to bring enough clarity to be prepared for the next stage. This format is called a manifesto. 

So here is my stimmfeld manifesto 2023: 

Diese Website verwendet Cookies. Bitte lesen Sie unsere Datenschutzerklärung für Details.

Verweigern

OK