30.04.2025

Instrument des Jahres: Stimme I


Die deutschen Landesmusikräte wählen unter der Federführung Schleswig-Holsteins regelmäßig ein Instrument des Jahres, auf das die Aufmerksamkeit für 12 Monate gelenkt werden soll. 2024 war es die Tuba, dieses Jahr dreht sich alles um die Stimme. Da fühle ich mich natürlich angesprochen, auch wenn es bei dieser Initiative hauptsächlich um die Gesangstimme geht und damit der Fokus auf nur einen Aspekt der menschlichen Stimme verengt ist. 

Ich werde in den kommenden Monaten in einem freien Rhythmus ab und zu ein paar Kommentare zu dem abgeben, was im Rahmen der Aktion „Instrument des Jahres: Stimme“ so gesagt, geschrieben und präsentiert wird – immer mit der Frage, wie sich die Vorstellungen der menschlichen Stimme, die dort verbreitet werden aus dem Ansatz von stimmfeld darstellen:



Kommentar 1: Ist die Stimme das „älteste Instrument der Welt“?

Im Rahmen der Aktion Instrument des Jahres 2025 ist an mehreren Stellen die Rede davon, dass die Stimme das älteste Instrument der Welt sei. So zum Beispiel auf der Website zur Aktion https://www.instrument-des-jahres.de/Arrow Right

Das klingt irgendwie seltsam. 


Bevor ich auf meine prinzipielle Skepsis bezogen auf die Instrumentenmetapher für die menschliche Stimme eingehe, will ich ein paar Gedanken zur Idee, sie sei das älteste Instrument, formulieren. Was genau ist da der Vergleichspunkt? Wenn man sagen würde, die Trommel oder die Knochenflöte seien das älteste Instrument, wäre klar, dass es um solche Instrumente geht, die von Menschen angefertigt worden sind. Das kann man von der Stimme nicht behaupten. Insofern ist die Stimme offenbar anders als alle anderen Musikinstrumente, die von Menschen verwendet werden. Kann man dann aber sinnvoll davon sprechen, die Stimme sei ein Instrument? Wenn man diese Art der Rede zulässt, wäre es auch möglich zu sagen, die Hände oder die Füße seien die ältesten Instrumente. Mit beiden kann man Rhythmen schlagen. So wie die Stimme die Luft in schallende Bewegung bringt, erzeugen Hände und Füße Klänge auf festen Oberflächen. Die Idee, es gäbe Musikinstrumente, die nicht angefertigt worden sind, lässt außerdem die Frage aufkommen, wieso es nur menschliche Instrumente geben soll. Wären evolutionsgeschichtlich betrachtet dann die Hinterbeine der Zikaden das älteste Instrument der Welt? 


Ich habe schon zu verschiedenen Gelegenheiten darauf hingewiesen, dass die Instrumentenmetapher für die menschliche Stimme zwar nicht völlig falsch ist, aber viele Qualitäten der Stimme unbeachtet lässt. (So z.b. in meinem Kleinen Stimmbuch für alle) 

Musikinstrumente könnte man definieren als Mittel zum Zweck der musikalischen Aktion. Insofern passt die Stimme da mit hinein, allerdings zeigt sich auch sofort, dass die Stimme noch ganz andere Möglichkeiten und Funktionen besitzt. Anders als die Gitarre, die Tuba oder das Klavier lege ich die Stimme nach dem Musizieren nicht zur Seite. Meine Stimme ist immer mit mir. Und sie zeigt sich mir in verschiedenen Situationen in einer viel engeren Verbindung, als das durch das Bild von Mittel und Zweck ausgedrückt werden kann. 

Ich behaupte, dass die Stimme sogar eine eigene Handlungskompetenz besitzt. Sie macht nämlich nicht immer das, was ich will. Sie kann sich verweigern und sie kann sozusagen ihren Willen durchsetzen. Das Bild eines instrumentellen Verhältnisses von mir zu meiner Stimme suggeriert, dass ich mit ihr umgehen könnte, so wie mit jedem anderen Instrument. Das ist aber nicht der Fall. Mein Verhältnis zur Stimme ist nicht in dieser Weise hierarchisch geordnet. Ich nutze die Stimme nicht einfach für meine Zwecke.  Angemessener scheint mir das Bild eines partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen Ich und Stimme, ein Verhältnis, das man gerade für die musikalische Praxis in eine Freundschaft entwickeln sollte. Denn nur wenn die Stimme zur Freundin wird, ist sie gerne bereit, meine gesanglichen Ideen zu unterstützen und mit den eigenen Möglichkeiten zu bereichern. Die Stimme – die älteste Partnerin der Welt?



















31.03.2025


Peter Sloterdijks Europabuch, Robert Musil und die Suche nach einer zeitgenössischen Philosophie der Stimme


In seinem Europabuch „Der Kontinent ohne Eigenschaften“ beruft sich Peter Sloterdijk nicht nur im Titel, sondern  wie sich bei der Lektüre nach und nach herausstellt, sehr explizit auf das große Buch von Robert Musil. Dessen Protagonist Ulrich, ein sehr europäisch gezeichneter Mann steht kurz vor dem 1. Weltkrieg in Österreich vor der entscheidenden Frage, ob es noch eine Chance für ihn gibt, Eigenschaften zu erwerben oder zu finden, die es ihm ermöglichen, so etwas wie ein sinnvolles Leben nach Maßgabe der Moderne zu führen. 

Zu Beginn war ich skeptisch, ob hinter der Titelwahl von Sloterdijk mehr steckt als eine anekdotische Bezugnahme. Tatsächlich hat sich herausgestellt, dass zumindest für eine Richtung seiner Überlegungen das Motiv der Eigenschaftslosigkeit in sehr origineller und an Musil angelehnter Form als wegbereitend fungiert – und zwar in einer Spielart, die für meine Fragestellung nach einer zeitgenössischen Konzeption der menschlichen Stimme eine interessante Anregung bereithält. Vorbereitet wird diese Anregung in Sloterdijks Auseinandersetzung mit Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“. In einer Nebenbemerkung und dem dazu angebrachten Zitat Spenglers wird darauf eingegangen, wie der moderne Mensch sich im Verhältnis zur Welt versteht. Das ist ja eine zentrale Frage für die  vocal ecotism-RechercheArrow Right, bei der nach Wegen gesucht wird, mit künstlerischen Mitteln dazu beizutragen, dieses Verhältnis weniger zerstörerisch zu gestalten und zugleich das Selbstverständnis des Menschen neu auszurichten. Bei Spengler kann man lesen, was der übersteigerte Individualismus, der das Ich vollständig von der Welt unabhängig machen will, im Menschen auslöst:


„Ein Ich im Unendlichen verloren: ganz und gar Kraft, aber in einer Unendlichkeit größerer Kräfte ohnmächtig; ganz und gar Wille, aber voller Angst um seine Freiheit (…) (es) wurde jede Grenze der Freiheit als eine Kette empfunden, die man durch das Leben schleppte, und dieses selbst als ein lebendiger Tod. Wenn es aber so war – warum? wofür?“ 

                                                                                        (O. Spengler: Untergang des Abendlandes, zit. nach Sloterdijk: Kontinent ohne Eigenschaften, Berlin 2024, S.158)


In der vocal ecotism-RechercheArrow Right haben wir uns relativ stark darauf konzentriert, die Versehrungen und Verwerfungen zu betrachten, die durch die moderne Trennung des souveränen Subjektes Ich von der objekthaften Welt in dieser Welt angerichtet worden sind. Spenglers Zitat erinnert eindrücklich daran, dass und wie nicht nur die Welt, sondern auch das Ich durch die Trennung versehrt wird bzw. sich selbst schadet. 

Diese Einsicht hat Konsequenzen für eine Idee der Stimmentwicklung wie die in der Tradition von Wolfsohn/Hart, der ich mich zugehörig fühle. Denn dort ist oft davon die Rede, dass Stimmentwicklung zugleich eine Entwicklung der Persönlichkeit unterstützt, bei der die Integration bislang ungehörter Stimmklangbereiche eine Integration der damit korrespondierenden Seelenanteile fördert. Im besten Fall führt das zu einer größeren stimmlichen wie lebenspraktischen Freiheit. Der Ansatz bleibt weiterhin richtig. Zu den Gefahren, die damit einher gehen, zählt an vorderster Stelle das Risiko, die Überbetonung des individualistischen Selbstverständnisses noch zu verstärken. Sehr intensive Erlebnisse mit der eigenen Stimme können dazu führen, das eigene Ego weiter aufzublähen. Dagegen hilft eine Rekontextualisierung in den sozialen und, so die These aus vocal ecotism: den gesamten lebensweltlichen Zusammenhang, der nicht nicht-menschliche Welt mit einbezieht. 

Dazu gehört, die brennende (!) ökologische Frage als Teil der gegenwärtigen Herausforderung zu begreifen, unsere Idee der Stimme und des Menschen den krisenhaften Gegebenheiten der Gegenwart anzugleichen. Hier hat der Mann ohne Eigenschaften (in der überzeugenden Interpretation von Sloterdijk) etwas zu sagen. Denn er deutet an, dass die Idee der potenziell immer im Wachstum begriffenen Persönlichkeit so wie alles andere (abgesehen vom Tod) nicht alternativlos ist. Ulrich knüpft an eine Figur aus der spätmittelalterlichen Mystik an, der es gerade nicht darum gehen konnte, die eigene Persönlichkeit zu entfalten, sondern im Gegenteil leer zu werden von Eigenschaften, um offen zu sein für den Geist Gottes. 


In der frühen Neuzeit hat daraus die Figur des jesuitischen Missionars unselige Energie bezogen und in der säkularisierten Form sieht Sloterdijk insbesondere Lenin und seine Genossen und Nachfolger in dieser Tradition, die die Sache (Gottes oder des Kommunismus) über das Wohl der Menschen stellt. 

In der ursprünglichen Gestalt hatte diese Idee, die eher in fernöstlichen Geistestraditionen zur vollen Blüte gekommen ist, viel weniger zerstörerische Aspekte. In Musils Roman spielt deshalb die Mystik keine geringe Rolle. Doch zuvor sieht sich Ulrich in einer Situation, die ihm keine Anhaltspunkte bietet, welche Eigenschaften es zu finden und auszubilden gäbe, um eine Persönlichkeit mit einem erfüllten oder sinnvollen Leben zu werden. Ich verweise auf die Kapitel 9-11 des MoE, in denen Musil die drei gescheiterten Versuche Ulrichs schildert, einen ihm angemessenen Beruf zu finden. 



Das Konzept der inneren Leere ist für uns interessant, weil damit die Vorstellung einhergeht, dass ich nicht mehr selbst mit meiner Stimme spreche, sondern sie dem Göttlichen zur Verfügung stelle. Hier treffen zwei Konzepte aufeinander, die beide in der modernen Kunst im Allgemeinen und in der Stimmkunst wirksam geworden sind. Einerseits führt es zum Genie, dem Künstler (selten der Künstlerin), der alles aus sich heraus schafft als eigenständige Quelle der Kreativität. Für die Stimmkunst ist Roy Hart dafür ein Paradebeispiel. Seine stimmliche Kraft und souveräne Variabilität sind nach allem, was ich gehört habe, bis heute beispiellos geblieben. Souveräne Beweglichkeit auf dem ganzen Feld der menschlichen Stimme ist hier das Vorbild gebende Ideal. Allerdings wäre zu diskutieren, ob Roy Harts Orientierung an C.G.Jung (und seinem archetypisch strukturierten kollektiven Unbewussten) und sein Konzept der objektiven Stimme nicht die Tür zu einem mehr als individuellen Schema der Stimme geöffnet haben. 

Das zweite Konzept ist nicht am Bild des inneren Wachstums orientiert, sondern an dem einer Durchlässigkeit für alles, was auf den Menschen zukommt. Stimmkünstlerisch geht es nach diesem Ansatz darum, sich für die Bewegungen, die sich mir zeigen, zu öffnen und sich ihnen hinzugeben. 

Auch zu diesem Konzept gibt es viele Beispiele aus der modernen Kunst, in denen Künstler*innen bei der Beschreibung des eigenen künstlerischen Prozesses davon sprechen, nicht zu erfinden, sondern bestenfalls etwas zu finden, das sich ihnen anbietet. Picasso ist dafür ein Paradebeispiel und die Tatsache, dass er zugleich als einer der kreativsten Künstler des 20. Jahrhunderts gilt, zeigt ähnlich wie das Beispiel Roy Hart, wie sich die beiden Konzepte in der Realität auf vielfältige Weise vermischen und nur sehr selten in Reinform auftreten. 


Für eine zeitgenössische Stimmkunst wird es darum gehen, beiden Optionen ihr Recht und ihren Raum zu geben. Damit unterscheidet sie sich allerdings schon gravierend von der geltenden Vorstellung des künstlerischen Gesangs, der nur unter der weitgehenden Kontrolle der eigenen Stimme in der Lage zu sein scheint, den Anforderungen des jeweiligen Klangideals zu entsprechen. Damit hat eine Stimmkunst im stimmfeld wenig zu tun. Zwar sind auch wir davon überzeugt, dass es für die Stimme wie für jede andere Kunstform eines Trainings bedarf, um sich dieses Feld so gut wie möglich anzueignen. Doch ist ein großer Teil des Aneignungsprozesses darauf ausgerichtet, ein Vertrauen aufzubauen, das der Stimme erlaubt, sich der Eigenbewegung hinzugeben, statt nur den bewussten Impulsen des Singenden zu folgen. Die Stimme ohne Eigenschaften wäre demgemäß eine Stimme, die weder auf einen abgezirkelten Bereich ihrer klanglichen Möglichkeiten noch auf den Ausdruck der korrespondierenden Anteile der Sänger*innenpersönlichkeit festgelegt ist - sondern sich erlaubt, Inspiration im freien Spiel der inneren und äußeren Kräfte zu finden und sich ihnen zu öffnen. 

27.03.2025

Otto Freundlich: Komposition

English below

Überlegungen zur menschlichen Stimme 

im Anschluss an das Werk von Otto Freundlich


Dieser Text ist im Rahmen der zweiten stimmfeld-Soirée entstanden, in der ich am 25. März 2025 das Werk des Künstlers Otto Freundlich daraufhin befragt habe, ob sich Anregungen und Anknüpfungspunkte für eine zeitgenössische Idee der menschlichen Stimme und Stimmkunst finden lassen. Nach dem Vortrag dieser Überlegungen habe ich Ausschnitte aus seinen Schriften vorgelesen. Die Audioaufnahme davon ist hierArrow Right zu finden.

Eine Dokumentation der ersten Soirée zu Otto Freundlich gibt es hierArrow Right!




Im Rahmen von vocal ecotism habe ich bereits ein paarmal darauf hingewiesen, dass sich durch die Einbeziehung der dritten und nicht-menschlichen Sphäre der Welt in das, was Stimme betrifft, auch unser Verständnis genau dieser Stimme verändern wird. Wenn wir anerkennen, dass Stimme immer als eingebettet in die weltlichen Zusammenhänge und Bedingungen erklingt, stellt sich die Frage neu, was das ist, die menschliche Stimme. 

Direkt hat das Werk von Otto Freundlich zu dieser Frage nicht viel beizutragen, trotzdem sind dort einige Andeutungen zu finden, mit denen wir bei der Suche nach einem ökologischen Verständnis der Stimme weiterkommen können. So zumindest ist meine Hoffnung. 


Um die Anregungen einordnen zu können, ist es hilfreich, kurz über ein paar Ideen zu sprechen, die für dieses neue Verständnis grundlegend sind. 

Ein zentraler Gedanke besagt, dass die Einbeziehung der dritten Ökologie (um die Begrifflichkeit von Felix Guattari zu verwenden) Rückwirkungen darauf haben wird, wie wir die beiden anderen Ökologien in Bezug auf die Stimme verstehen. D.h. unser Selbstverständnis als Wesen, die Stimme haben, wird sich ändern und zugleich unser Bild von dem, wie wir mit anderen Menschen über das System Stimme/Gehör verbunden sind. 

Deshalb liste ich zuerst die Aspekte auf, die mir zu den drei Bereiche oder Feldern einfallen:

1.    Der eigene, individuelle Raum: In diesem Bereich hat es in den vergangenen Jahren auch unabhängig von vocal ecotism einige Schwerpunktverschiebungen gegeben, mit denen sich der Ansatz von stimmfeld jetzt in gewisser Hinsicht von dem, der unter den Namen Wolfsohn/Hart fungiert, unterscheidet. Weniger wichtig ist geworden, die stimmlichen Aktionen als Ausdrucksgeschehen zu verstehen. Stattdessen arbeite ich mich an Rilkes Diktum „Gesang ist Dasein“ ab. Dazu gehört auch, die Beschäftigung mit der Stimme nicht vornehmlich als Vorbereitung für wie auch immer geartete künstlerische Aktionen zu betrachten (obwohl dieser Punkt auch nicht ganz verschwindet), sondern die Möglichkeiten einer stimmlichen und künstlerischen  Praxis zu erkunden, die die Stimme als einen Weg betrachtet, der denen von Meditation, Yoga, TaiJii oder Wushu, um nur einige zu nennen, ähnlich ist. 

Da liegt es nahe zu denken, dass ich hier von Stimmentwicklung als Persönlichkeitsentwicklung rede, die doch schon lange im Zentrum der Arbeit nach Wolfsohn/Hart steht. Damit komme ich zu einem Punkt, für den es bei Otto Freundlich etwas zu lernen gibt. 

Die Idee der Persönlichkeitsentwicklung – so richtig und wichtig sie auch sein mag – ist ein Kind des Individualismus und der modernen Vorstellung von klar abgrenzbaren Subjekten, die irgendwie in der Welt und der Welt gegenüber stehen. Diese Forderung nach klarer Abgrenzung wird von Otto Freundlich in seinem Konzept der Malerei kritisiert. Für ihn geht es darum, die Grenzen zwischen mir und der Welt, aber auch zwischen allen Lebewesen und Gegenständen in der Welt, durchlässig zu machen und zu erkennen, dass all diese Dinge und Wesen eingebunden sind in ein Spiel von Kräften. Freundlichs Kunst hat sich zur Aufgabe gemacht gestellt, dieses Kräftespiel zu thematisieren. 

Die Entwicklung der 8-Oktaven-Stimme oder gar des 8-Oktaven-Lebens sind dann sozusagen keine rein persönliche Angelegenheit mehr. In Bezug auf die soziale Sphäre, die hier eine wichtige Bedeutung hat, war das RHT nach allem, was ich davon weiß, zumindest zeitweise auf dem richtigen Weg. Die Öffnung der individuellen Sphäre und Stimme hinein in die nichtmenschliche Welt, kam sicher nur am Rande vor. 


2.    Damit sind wir aus dem individuellen Raum bereits in die zweite Ökologie, den sozialen Raum gelangt. Für die Idee, dass die Befreiung der Stimme zu sich selbst eine soziale Frage darstellt, kann man bei Otto Freundlich wieder eher indirekt einiges finden. Er proklamiert für sich nämlich eine enge Verzahnung von Ästhetik und Ethik. Freundlich arbeitet nicht deshalb an der gegenstandslosen Kunst, weil sie ästhetisch reizvoll ist, sondern weil dahinter ein Konzept steht, dass vor allem ethische Relevanz besitzt. Wenn wir die Welt nicht mehr als Sammlung von klar voneinander abgezirkelten Einheiten und Dingen verstehen, sondern als Mosaik von Farben, deren inhärente Kräfte aufeinander wirken und sich gegenseitig beeinflussen, die Trennung der Dinge vom Menschen und der Menschen voneinander also nicht mehr unser Weltbild bestimmt, dann kann es nach Otto Freundlich möglich werden, friedlich und respektvoll miteinander zu leben. 

Die Art wie Stimme und Klänge in der Welt miteinander agieren, kann als Modell für dieses Weltbild herangezogen werden. Was schon in die dritte Ökologie, die die nichtmenschliche Welt umfasst, führt. 


3.    Die vocal ecotism – Recherche hat uns für die Suche nach einem zeitgenössischen Verständnis der menschlichen Stimme den entscheidenden Impuls gebracht, die Öffnung des Horizontes hinein in die nicht-menschliche Welt, die uns umgibt und Stimmklang ermöglicht und ihre je aktuelle Ausprägung mitbestimmt. Wieder kann man hier vom Modellcharakter der Stimme für die gesamte menschliche Existenz sprechen. Die Art, wie die Stimme in die Weltzusammenhänge eingebettet ist, zeigt an, wie sich unser In-der-Welt-Sein gestaltet. Auf einen sehr kurzen Nenner gebracht heißt das: Gesang ist Dasein. Der Rilke-Satz ist ja schon im Abschnitt zum individuellen Raum der Stimme gefallen. Doch erst hier, im Feld der Lebenswelt, die die nichtmenschliche Dimension umfasst, bekommt er seinen tiefen Sinn. 


Zum Schluss möchte ich noch auf die Anordnung der drei Ökologien im Rahmen einer Arbeit mit der Stimme eingehen. Bislang sind wir davon ausgegangen, dass die drei Sphären von der kleinsten, der individuellen, über die soziale hin zur größten alles umfassenden Dimension aufeinander folgen. Diese Anordnung zeigt meines Erachtens eher die historische Entwicklung, die von vielen Konzepten bestimmt ist, nach denen wir in der Moderne gewohnt sind zu denken. Danach beginnt es eben mit dem Subjekt, dem Ich, das sich irgendwie in den sozialen Raum öffnet. Seit uns die allgemeinen Lebensbedingungen durch die ökologischen Krisen abhanden kommen, haben wir immerhin erkannt, dass es da noch mehr gibt, das uns interessieren sollte. Soweit, so gut. Otto Freundlich zeigt uns eine andere Art, die Welt zu betrachten – und damit auch, die Stimme zu verstehen. Danach ist das Feld der miteinander agierenden Kräfte das primäre, indem sich Individualität und Sozialität als Formen dieses Kräftespiels entfalten. Mit der stimmlichen Elementenlehre versuchen wir, uns dieser Vorstellung zu nähern. 

Aber Freundlich geht an dieser Stelle noch einen Schritt weiter, der für uns interessant ist. Denn für ihn ist nur die Kunst in der Lage, das neue Weltbild zu verstehen und darzustellen. Dazu bedarf es nämlich eines viel weiteren Horizonts als dem der Wissenschaften. Es braucht dafür eine geschulte Wahrnehmung der Kräfte, die uns umgeben und durchdringen. Und dafür bedarf es der gesamten inneren Situation der Menschen, nicht nur ihres Verstandes. Der Punkt ist für uns wichtig, weil er darauf hinweist, dass – wie wir ja aus der Stimmarbeit wissen – auch die Stimme nur mit allen Sinnen und Fähigkeiten adäquat erfasst werden kann. Das heißt, unsere Stimmarbeit ist immer schon künstlerisch gefärbt. Wir hören, fragen und suchen aus der Position der Kunst heraus, ohne zwingend dauernd Kunstaktionen oder Werke schaffen zu wollen. Kunst als Lebensform, die der Logik der Stimme verpflichtet ist. Da kommt also einiges zusammen, was bislang eher nebeneinander lag. Ist das ein Startpunkt für eine ganzheitliche Konzeption der menschlichen Stimme?

Otto Freundlich: Komposition

Abstract Vocal Art?
Reflections on the Human Voice 

in the Light of the Work of Otto Freundlich


This text was created for the second stimmfeld soirée, during which I examined on 25 March 2025 the work of the artist Otto Freundlich to see if it contains suggestions and points of reference for a contemporary idea of the human voice and vocal art. After presenting these considerations, I read excerpts from his writings. The (German) audio recording of this can be found hereArrow Right.

A documentation of the first soirée on Otto Freundlich can be found hereArrow Right!




In the context of vocal ecotism, I have already pointed out a few times that by including the third and non-human spheres of the world in what affects voice, our understanding of that very voice will also change. If we recognise that voice always emerges in the context of worldly connections and conditions, the question arises anew as to what the human voice is.

Otto Freundlich's work does not have much to contribute directly to this question, but nevertheless, there are some hints in it that may help us in our search for an ecological understanding of the voice. At least that is my hope.

In order to be able to contextualise the suggestions, it is helpful to briefly mention a few ideas that are fundamental to this new understanding.

One central idea is that the inclusion of the third ecology (to use Felix Guattari's terminology) will have repercussions on how we understand the other two ecologies in relation to the voice. In other words, our self-understanding as beings that have voices will change, as will our image of how we are connected to other humans through the voice/hearing system.

That is why I am beginning with a list of aspects that occur to me regarding the three areas or fields:

1. One's own individual space: In this area, there have been some shifts in focus in recent years, which are not related to vocal ecotism. In this respect, the approach of stimmfeld now differs in some respects from that of Wolfsohn/Hart. Understanding the vocal actions as acts of expression has become less important. Instead, I am working on Rilke's dictum ‚Gesang ist Dasein/Singing is being’. This also includes not regarding the study of the voice primarily as preparation for artistic actions of whatever kind (although this point does not disappear completely), but rather to explore the possibilities of a vocal and artistic practice that regards the voice as a path similar to those of meditation, yoga, TaiJii or Wushu, to name just a few.

It seems obvious to think that I am talking here about voice development as personal development, which has been at the centre of Wolfsohn/Hart's work for a long time. This brings me to a point where there is something to learn from Otto Freundlich.The idea of personal development – however correct and important it may be – is a child of individualism and the modern notion of clearly definable subjects which somehow stand in relation to the world and the world. This demand for clear demarcation is criticised by Otto Freundlich in his concept of painting. For him, it is about making the boundaries between me and the world, but also between all living things and objects in the world, permeable and recognising that all these things and beings are integrated into a play of forces. Freundlich's art has set itself the task of addressing this play of forces.

The development of the eight-octave voice or even of eight-octave life are then, so to speak, no longer a purely personal matter. In relation to the social sphere, which has an important meaning here, the RHT was, from what I know of it, at least temporarily on the right track. The opening of the individual sphere and voice into the non-human world certainly occurred only occasionally.

2. With this, we have already moved from the individual space into the second ecology, the social space. Otto Freundlich's ideas also indirectly support the notion that the liberation of the voice to itself is a social issue. He proclaims a close connection between aesthetics and ethics. Freundlich does not work on non-representational art because it is aesthetically appealing, but because it is based on a concept that is primarily ethical. If we no longer understand the world as a collection of clearly defined units and things, but as a mosaic of colours whose inherent forces interact and influence each other, and if the separation of things from humans and of humans from each other no longer determines our view of the world, then, according to Otto Freundlich, it may become possible to live together peacefully and respectfully.

The way that voices and sounds interact with each other in the world can be used as a model for this world view. Which already leads to the third ecology, which encompasses the non-human world.

3. The vocal ecotism research has given us a crucial impetus in our search for a contemporary understanding of the human voice, opening up the horizon into the non-human world that surrounds us and makes vocal sound possible and helps shape its current form. Again, we can speak of the voice as a model for the whole of human existence. The way in which the voice is embedded in the world's interconnections indicates how our being-in-the-world is shaped. To put it very briefly, in German, Gesang ist Dasein. The Rilke quote was already mentioned in the section on the voice's individual space. But it is only here, in the field of the world of life, which encompasses the non-human dimension, that it acquires its full meaning.

Finally, I would like to discuss the arrangement of the three ecologies in the context of working with the voice. So far, we have assumed that the three spheres follow one another from the smallest, the individual, through the social to the largest, all-encompassing dimension. In my opinion, this arrangement rather shows the historical development, which is determined by many concepts that we in modern times are accustomed to thinking in. According to this, it begins with the subject, the ego, which somehow opens into social space. Since we have lost our general living conditions due to the ecological crises, we have at least realised that there is more that should interest us. So far, so good. Otto Freundlich shows us a different way of looking at the world – and thus also of understanding the voice. According to this, the field of interacting forces is the primary one in which individuality and sociality unfold as forms of this interplay of forces. We try to approach this idea with the vocal element theory.

But Freundlich goes a step further at this point, one that is of interest to us. For him, only art is capable of understanding and conveying the new world view. This requires a much more expanded horizon than that of the sciences. It requires a trained perception of the forces that surround and permeate us. And for this, the entire inner situation of humans is needed, not just their minds. This point is important to us because it indicates that – as we know from voice work – the voice can only be adequately grasped with all our senses and abilities. This means that our work with the voice is always already coloured by art. We listen, ask questions and search from the position of art, without necessarily wanting to constantly create art actions or works. Art as a way of life that is committed to the logic of the voice. So a number of things come together that previously existed rather separately. Is this a starting point for a holistic conception of the human voice?




English below!


Gedanken im Anschluss an die Lektüre von

„Demokratie und Revolution. Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit“ von Hedwig Richter und Bernd Ulrich.


Mehr oder weniger durch Zufall bin ich auf dieses Buch gestoßen und fühlte mich besonders vom Untertitel angesprochen. Ich habe mich im letzten Jahr aufgrund des 300. Geburtstages noch einmal mit Immanuel Kant beschäftigt und trage die Idee in mir, ausgehend von ein paar Überlegungen Kants zum Universalismus das Konzept eines ökologischen Weltbürger*innentums auszuformulieren. Ob mir das gelingt ist fraglich, aber die Absicht hilft mir, ab und zu meine Gedanken zu sortieren und für meine Frage nach der Kunst in der versehrten Welt das große Bild nicht aus den Augen zu verlieren. 

Diese einleitenden Sätze fordern mich auf, meinen Eindruck von dem Buch „Demokratie und Revolution“ mit einer Enttäuschung zu beginnen, die mir die Lektüre gegeben hat. Eigentlich bin ich von dem, was die beiden Autor*innen anbieten, sehr angetan und ich finde, da gibt es was zu lernen über die gegenwärtige Situation im sogenannten Westen und die Beziehung zwischen ökologischer und politischer Krise. Doch von Kant ist in dem Buch an keiner Stelle die Rede. Der Untertitel wird nicht aufgenommen und man hat den Verdacht, die Titelei ist eher dem Lektorat zu verdanken als den Autor*innen. Auch der Haupttitel „Demokratie und Revolution“ führt die Leser*innen ziemlich in die Irre, denn die Frage nach Möglichkeit oder Notwendigkeit von revolutionären Aktionen wird zwar aufgegriffen, steht aber meines Erachtens weit ab vom Zentrum des Essays. 

Zur Demokratie und der Frage, ob diese Regierungsform für die Bewältigung der großen Krisen unserer Zeit noch angemessen ist, findet sich dagegen einiges an interessanten Überlegungen, die optimistisch stimmen, zumindest dann, wenn die Demokratien und ihre politische Klasse wieder lernen, ihre Bürger*innen als erwachsene Menschen anzusprechen - und auch zu fordern - relativ unabhängig davon, ob die Bevölkerung das auch möchte. Woran man ja mit guten Gründen zweifeln kann. Die Ideologie des Konsums hat die westlichen Bevölkerungen so weit im Griff, dass bei auch nur leisesten Andeutungen von Vorschlägen auf Verzicht ein Aufschrei durchs Land hallt, der vermuten lässt, die Leute seien alle in der frühkindlichen Trotzphase stecken geblieben. Richter und Ulrich erinnern in dem Zusammenhang an die Episode mit dem Veggieday, der den Grünen vor ein paar Jahren schwer zugesetzt hat. Die bizarre Debatte zum Heizungsgesetz steht in derselben Tradition. 

Diese kindischen und unverantwortlichen Reaktionen sind nach Richter/Ulrich von einer Politik geschürt worden, die dem Wahlvolk suggeriert, die tiefen Krisen der Welt, die sich nicht mehr verleugnen lassen (außer mit den psychopathologischen Mitteln der populistischen Rechten), seien ohne größere Zumutungen an die Einzelnen aus der Welt zu schaffen. Dass es sich bei dieser Politik der Zumutungsfreiheit um ein gefährliches Wunschdenken handelt, kann man mit vielen Informationen und Beispielen gespickt sehr gut in dem Buch nachlesen. 

Aber die Autor*innen fragen noch eine Ebene tiefer und da wird das Buch eigentlich interessant, weil es nicht nur eine weitere Version der Krisenanalyse bietet, sondern einen neuen Blick darauf vorschlägt. Nach Richter/Ulrich erlebt der Westen zurzeit eine Phase tiefster Verunsicherung. Nach Jahrhunderten, in denen die Bürger*innen Europas und Nordamerikas davon überzeugt waren, ihre Lebensform sei allen anderen auf der Erde weit überlegen, verhärtet sich seit ein paar Jahrzehnten der Verdacht, diese Überzeugung sei ein Irrtum gewesen und tatsächlich habe diese Form des Lebens und Handelns dazu geführt, die Welt in ökologischer, aber auch in sozialer und spiritueller Hinsicht an den Rand des Abgrunds zu bringen. Wir müssen plötzlich mit dem Umstand leben, dass alles was „wir“ getan haben und heute noch tun, potenziell zerstörerische Wirkung entfaltet. Beim kapitalistisch angefeuerten Wahn des Konsums liegt das ja nahe, aber auch die damit verbundenen Ideen der individuellen Freiheit, der Selbstbestimmung (ohne auf die Kollateralschäden in der so genannten Natur zu achten) sind nicht mehr selbstverständlich der unübertreffliche Gipfel des politischen Denkens. Der Fortschritt hat schon seit langem die falsche Richtung eingeschlagen. Nur fällt es „uns“ noch immer verdammt schwer einzugestehen, dass wir uns schon seit langem auf dem Holzweg befinden und es Zeit wird, die Richtung zu ändern. 

Dieser Befund wird an verschiedenen Themen durchgespielt. Besonders eindrücklich finde ich das Kapitel über Tiere. Die Erde ist zu einem Stall verkommen, in dem zahllose Tiere ein trauriges bis grausames und nur auf die Fleischproduktion ausgerichtetes Leben fristen müssen, aber Hauptsache, in der Kantine gibt es weiterhin ne Currywurst! (Sorry, das war polemisch von mir!)

Das Erstarken der Rechtspopulisten (linke Spielarten wie das BSW haben die Autor*innen noch nicht auf dem Schirm) lässt sich aus dieser Perspektive damit erklären, dass Parteien wie die AfD den Leuten versprechen, es könne alles wieder so werden, wie es mal gewesen ist. Wir könnten wieder die „Besten“ sein, die weißen Westler als Winnertypen! Doch das ist vorbei. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die krisenhafte Situation anzuerkennen und zuzugeben, dass wir als einzelne Bürger*innen eine moralische Verantwortung dafür tragen, die Dinge in eine andere Richtung zu lenken. (Da grüßt der Kant von hinten!)

Ich werde nicht in die Details gehen, mit denen Richter/Ulrich die Richtung bestimmen, in die die gesellschaftspolitische Bewegung von uns allen gelenkt werden soll, sondern empfehle an dieser Stelle die eigenständige Lektüre des Buchs und frage:

Was heißt das alles für die Stimmkunst in der versehrten Welt? Wir werden auf jeden Fall daran erinnert, dass die moderne Kunst selbst ein westliches Pflänzchen darstellt, das von der Krise des Westens, die gerade dabei ist, die ganze Erde zu verwüsten, nicht unberührt bleiben kann. Inwiefern ist die gegenwärtige Kunst Symptom der Krise? Was gilt es für uns zu erkennen und zuzugestehen? Wie können wir von dort aus beginnen, eine der Zeiten angemessene Kunst und Stimmkunst zu entwickeln, die sich den ökologischen Krisen nicht nur als interessantes Thema widmet, sondern sie auf tiefer Ebene ernst nimmt? Wie kann die Kunst im Allgemeinen und die Stimmkunst im Besonderen beginnen, die richtigen Fragen zu stellen, statt einfache Antworten zu geben, die implizieren, wir wüssten ja schon immer, was falsch läuft? 

Mit den Recherchen im Rahmen von vocal ecotismArrow Right haben wir die ersten Schritte in diese Richtung unternommen und trotz des zur Verzweiflung anregenden Eingeständnisses, dass uns eigentlich keine Zeit bleibt, werden wir weiter nach dem Beitrag suchen, den die Kunst in der versehrten Welt liefern kann. 

Thoughts following the read of

‘Democracy and Revolution. Ways out of self-imposed ecological immaturity’ by Hedwig Richter and Bernd Ulrich.

(This book is only available in the German version but I hope my considerations will make sense even if you are not able to read the original. IN the end of the article I will look for a connection to our questions of vocal ecotism!)

I came across this book more or less by chance and was particularly drawn to the subtitle. Last year, I revisited Immanuel Kant in celebration of his 300th birthday and have been carrying the idea of formulating the idea of an ecological world citizenship based on a few of Kant's reflections on universalism. Whether I will succeed in doing so is questionable, but the idea helps me to sort my thoughts from time to time and not to lose sight of the big picture in my quest for art in a wounded world.

These introductory sentences prompt me to begin my impression of the book ‘Democracy and Revolution’ with a disappointment that the reading gave me. Actually, I am very taken with what the two authors offer and I think there is something to be learned about the current situation in the so-called West and the relationship between the ecological and the political crisis. But Kant is not mentioned anywhere in the book. The subtitle is not taken up and one suspects that the title page is more the work of the editor than the authors. The main title ‘Democracy and Revolution’ also misleads the reader, because although the question of the possibility or necessity of revolutionary action is taken up, in my opinion it is not at the centre of the essay.

On the other hand, there are some interesting considerations regarding democracy and the question of whether this form of government is still appropriate for dealing with the major crises of our time. These considerations give cause for optimism, at least if democracies and their political classes learn to address their citizens as adults again – and also to challenge them, relatively independently of whether the population wants this or not. Although there are good reasons to doubt this. The ideology of consumerism has such an hold over the populations of the West that the slightest suggestion of proposals demanding restraint is met with an outcry that suggests people have all regressed to the early childhood phase of defiance. In this context, Richter and Ulrich recall the episode with the proposal of a Veggie Day, which caused the Greens a lot of trouble a few years ago. The bizarre debate on the Heating Act follows the same tradition.

According to Richter/Ulrich, these childish and irresponsible reactions have been fuelled by a policy of suggesting to the voting public that the deep crises in the world, which can no longer be denied (except by the psychopathological means of the populist right), can be resolved without major impositions on individuals. The fact that this politics of freedom from imposition is dangerous wishful thinking is amply illustrated in the book with lots of information and examples.

But the authors ask even deeper questions, and that's where the book really gets interesting, because it doesn't just offer another version of the crisis analysis, but suggests a new way of looking at it. According to Richter/Ulrich, the West is currently experiencing a phase of profound uncertainty. After centuries during which the citizens of Europe and North America were convinced that their way of life was far superior to all others on earth, suspicions have been growing in recent decades that this conviction was a mistake and that this way of living and acting has indeed led to the world being brought to the brink of the abyss in ecological, but also in social and spiritual terms. We suddenly have to live with the fact that everything ‘we’ have done and are still doing has a potentially destructive effect. This is obvious in the capitalist-fuelled madness of consumerism, but the associated ideas of individual freedom and self-determination (without paying attention to the collateral damage in so-called nature) can no longer be taken for granted as the unsurpassable pinnacle of political thought. Progress has been going in the wrong direction for a long time. It's just that ‘we’ still find it damn hard to admit that we've been barking up the wrong tree for a long time and that it's time to the change direction.

This conclusion is drawn in relation to various topics. I found the chapter on animals particularly impressive. The earth has degenerated into a stable in which countless animals have to live a sad and cruel life oriented solely towards meat production, but the primary concern is that there is still a curry sausage in the canteen! (Sorry, that was polemic of me!)

The rise of right-wing populists (left-wing variants such as the BSW are not yet on the authors' radar) can be explained from this perspective by the fact that parties like the AfD in Germany promise people that everything can go back to the way it used to be. We could be the “best” again, the white Westerners as winners! But that time is over. We have no choice but to recognise the crisis and admit that we, as individual citizens, have a moral responsibility to change things in a different direction. (Here comes Kant again!)

I will not go into the details of how Richter/Ulrich determine the direction in which the socio-political movement of all of us is to be steered, but instead recommend at this point to read the book by yourself and ask:

What does all this mean for vocal art in the wounded world? We are in any case reminded that modern art itself is a Western plant that cannot remain untouched by the crisis of the West, which is currently devastating the entire earth. To what extent is contemporary art a symptom of the crisis? What do we need to recognise and admit? How can we start from there to develop an art and vocal art appropriate to the times, which not only addresses the ecological crises as an interesting topic, but takes it seriously on a deeper level? How can art in general and vocal art in particular start asking the right questions instead of giving simple answers that seem to imply that we always know what is going wrong?

With our research in the context of vocal ecotismArrow Right, we have taken the first steps in this direction and, despite the exasperating realisation that we actually have no time, we will continue to search for the contribution that art can make in this wounded world.

17.01.2025

English below!


Künstlerische Forschung in der versehrten Welt?


Nach meinem Verständnis basiert die Idee der künstlerischen Forschung auf dem Umstand, dass die Kunst eine eigenständige Erkenntnisform darstellt, die zwar nicht unabhängig von anderen Formen wie Wissenschaft und Alltag existiert, aber von diesen in wichtigen Hinsichten verschieden ist. Insbesondere ist das Verhältnis von Theorie und Praxis anders: Kunst beruht mehr auf Theorie als die Alltagserfahrung und die Praxis spielt in der Kunst eine wichtigere Rolle als in den Wissenschaften.


Dies vorausgesetzt sehe ich die künstlerische Forschung als ein System von Recherchen, die sich an vier verschiedenen Schwerpunkten orientiert. Sie stehen in einem engen Zusammenhang zueinander. 

1.    Künstlerische Forschung nutzt Praktiken der Kunst, um ihre Fragen zu bearbeiten. 

2.    Künstlerische Forschung entwickelt eigene Praktiken der Kunst, die sich aus den gestellten Fragen ergeben. 

3.    Künstlerische Forschung zielt darauf, nicht-künstlerische Fragen (politischer, gesellschaftlicher, ökologischer Art etc.) mit den Mitteln der Kunst zu ergründen.

4.    Künstlerische Forschung entwickelt neue Strategien der Kunst, die aufgrund der gesellschaftspolitischen Situation der jeweiligen Gegenwart erforderlich werden. 


In allen vier Bereichen habe ich gearbeitet und dabei die künstlerischen Erforschungen immer vom Startpunkt einer Logik der menschlichen Stimme aus begonnen. Diese Logik lässt sich in andere künstlerische Bereiche übertragen. So steht die Stimme gemeinsam mit Rhythmus am Anfang jeder musikalischen Tradition und hat zugleich eine enge Verbindung zur körperlichen Verfasstheit des Menschen, die sich etwa im Tanz auf spezielle Weise ausdrücken kann. Vor diesem Hintergrund möchte ich auch in Zukunft das Programm der künstlerischen Forschung von der Logik der Stimme aus auf den oben aufgeführten Grundsätzen aufbauen und nach den Möglichkeiten einer Stimmkunst in der versehrten Welt (vocal ecotism) fragen. Die Grundsätze führen die praktische Arbeit in folgende Richtungen:


Zu 1.: Mit den Mitteln der Stimmerkundung, wie sie in meinem Ansatz von stimmfeld entwickelt wurden, kann eine ganz spezielle Kultur des Hörens – auf mich selbst und auf andere – entfaltet werden, die einen forschenden Charakter hat. 


Zu 2.: Aus der gegenwärtigen Situation der Künste und der Welt im Allgemeinen ergibt sich die Aufgabe, die herkömmlichen Formate der Präsentation von darstellender Kunst zu hinterfragen und nach neuen Formen zu suchen. 


Zu 3.: Das Angebot künstlerischer Forschung zielt darauf ab, ein Bewusstsein dafür zu wecken und zu stärken, dass die künstlerische Praxis im gesellschaftspolitischen Kontext der Zeit steht und dieser Kontext Auswirkungen auf die Form der künstlerischen Aktivitäten hat. 


Zu 4.: Kunst wird immer aus der Zeit geboren, in der sie entsteht. Künstlerische Forschung stellt diesen Zusammenhang ins Zentrum und sucht nach den Antworten der Kunst auf die Krisen unserer Zeit. 



Artistic research in the wounded world?

In my understanding, the idea of artistic research is based on the fact that art is an original form of knowledge which, although it does not exist independently of other forms such as science and everyday life, is different from them in important respects. In particular, the relationship between theory and practice is different: art is based more on theory than everyday experience and practice plays a more important role in art than in the sciences.

On this basis, I see artistic research as a system of enquiry that is oriented towards four different focuses. They are closely related to each other.

1. Artistic research uses artistic practices to address its questions.

2. Artistic research develops its own artistic practices that arise from the posed questions.

3. Artistic research aims to explore non-artistic questions (of a political, social, ecological nature, etc.) by means of art.

4. Artistic research develops new strategies for art that are required by the socio-political situation of the current time.

I have worked in all four areas and have always taken the artistic research from the starting point of the logic of the human voice. This logic can be transferred to other artistic fields. The voice, together with rhythm, is at the beginning of every musical tradition and is also closely connected to the physical condition of humans, which can be expressed in a special way in dance, for example. In the future, I want to continue building the programme of artistic research on the logic of the voice based on the principles listed above and to explore the possibilities of vocal art for the wounded world (vocal ecotism). The principles guide the practical work in the following directions:

On point 1: The means of exploring the voice, as developed in my approach to stimmfeld, can be used to develop a very special culture of listening – to myself and to others – that has an exploratory character.

On point 2: The current situation of the arts and the world in general gives rise to the task of questioning the conventional formats in which performing arts are presented and of searching for new forms.

On point 3: The aim of artistic research is to raise and strengthen awareness of the fact that artistic practice is situated in the socio-political context of the time and that this context has an impact on the form of artistic activities.

On point 4: Art is always born of the time in which it is created. Artistic research focuses on this connection and seeks answers from art to the crises of our time.


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